Internationale SCIentinel-Studie: Früherkennung kann Komplikationsrisiko senken
Nach einem Unfall oder einer schweren Verletzung können Nervenbahnen im Rückenmark geschädigt oder durchtrennt sein. Man spricht von einer Querschnittlähmung. Je nach Lage der Verletzung sind unterschiedliche Teile des Körpers von Ausfällen betroffen. Forschende unter Leitung der Charité – Universitätsmedizin Berlin haben jetzt untersucht, inwiefern Rückenmarksverletzungen auch zu einer eingeschränkten Immunfunktion beitragen. Im Fachmagazin Brain* beschreiben sie unter anderem, wie komplette Querschnittlähmungen zu Immunschwäche und einem erhöhten Infektionsrisiko führen, was eine Regeneration behindert.
Akut querschnittgelähmte Patient:innen sind besonders anfällig für Infektionen, etwa für Atem- oder Harnwegsinfekte. Die genaue Ursache dafür war lange Zeit unklar. Komplikationen dieser Art sind im schlimmsten Fall tödlich oder aber sie beeinträchtigen die Regeneration. Ob das Immunsystem direkt betroffen ist und bei einer Verletzung des Rückenmarks Schaden nimmt, dieser Frage ist ein internationales Forschungsteam nun systematisch nachgegangen.
„Wir wollten wissen, ob die Immunschwäche nach einer Rückenmarkverletzung von der Schwere und Höhe der Schädigung abhängt, ähnlich wie es bei einer Lähmung der Muskulatur der Fall ist“, sagt Dr. Marcel Kopp, Wissenschaftler im Bereich Experimentelle Neurologie der Charité. Verursacht wird die Querschnittlähmung durch eine teilweise oder komplette Durchtrennung des Rückenmarks. Unterhalb der Verletzung können die Gliedmaßen gelähmt sein und werden nicht gefühlt. Auch Organe oder Organsysteme können betroffen sein, denn wichtige Nervenverbindungen im Rückenmark sind unterbrochen.
Das größte Risiko für Menschen, die eine akute Querschnittlähmung erlitten haben, sind in den ersten Wochen erworbene Infektionen mit nachfolgender Sepsis, einer Blutvergiftung. Sie zu verhindern, ist ein wesentliches Ziel. Denn Infektionen stellen nicht nur ein Risiko für das Überleben der Patient:innen dar, sie behindern auch eine bestmögliche Erholung neurologischer und motorischer Funktionen. Lokal ansetzende Therapien oder neue präventive und immunwirksame Behandlungen könnten die Ergebnisse einer Rehabilitation verbessern.
Biomarker verweisen auf Infektionsrisiko
Die Forschenden gehen davon aus, dass es infolge der schweren Verletzung zu einer gestörten Kommunikation zwischen dem Gehirn und Teilen des autonomen Nervensystems im Rückenmark kommt. Die ausbleibende Koordination von Nerven- und Immunsystem mündet schließlich in einer systemischen Immunschwäche. Marker im Blut, die mit einem solchen Defizit einhergehen, sollen dabei helfen, die Infektionsanfälligkeit von Patient:innen frühzeitig individuell abzuschätzen und zu behandeln. Welche Blutveränderungen sind also spezifisch für eine akute Rückenmarkverletzung? Und sind diese Veränderungen abhängig von der Lage und Schwere der Verletzung?
„Um dies festzustellen, haben wir im Blut von akut querschnittgelähmten Patient:innen die Menge eines spezifischen Zelloberflächenmoleküls auf bestimmten Immunzellen, den Monozyten, untersucht. Das Molekül trägt den Namen mHLA-DR und ist ein bewährter Biomarker zum Abschätzen der Immunkompetenz bei intensivmedizinischen Patient:innen“, erklärt Dr. Kopp. Die Ergebnisse aus Gruppen von Betroffenen mit jeweils unterschiedlichen Verletzungen des Rückenmarks wurden anschließend mit Ergebnissen von Patient:innen verglichen, bei denen lediglich eine Verletzung der Wirbelkörper vorlag, bei noch intaktem Rückenmark. „Für schwerwiegende Rückenmarkverletzungen konnten wir nachweisen, dass eine reduzierte Anzahl von HLA-DR-Molekülen pro Monozyt zu einer Deaktivierung dieser Immunzellen führt. Da die Vorläufer der Fresszellen eine wichtige Komponente der Immunabwehr sind, lässt sich anhand dieses Markers die Anfälligkeit für schwere Infektionen und Sepsis bei kritisch kranken Menschen vorhersagen“, so der Wissenschaftler.
Je höher und schwerer die Verletzung, umso ausgeprägter die Immunschwäche
Eine Immunschwäche nach Rückenmarkverletzung wird auch Spinal Cord Injury-induced Immune Deficiency Syndrome (SCI-IDS) genannt. Wie die aktuelle Studie zeigt, ist sie bei Patient:innen mit schweren, neurologisch vollständigen Rückenmarkverletzungen oberhalb der Brustwirbelsäule am stärksten ausgeprägt. Das zeigt sich besonders deutlich im Vergleich mit Patient:innen, die nur eine leichtere Verletzung im Bereich der unteren Brust- oder Lendenwirbelsäule erlitten hatten. Insgesamt sind Rückmarkverletzte deutlich stärker betroffen als Patienten:innen mit einer reinen Wirbelsäulenverletzung ohne Beteiligung des Rückenmarks. „Die Rückenmarkverletzung an sich, die Verletzungshöhe und die Schwere der Läsion sind entscheidende Faktoren beim Entstehen der sogenannten neurogen-vermittelten Immunschwäche“, schließt Prof. Jan Schwab, Leiter der multizentrischen Studie mit insgesamt etwas mehr als einhundert akut Verletzten.
Besonders hoch ist das Risiko für beispielsweise eine lebensbedrohliche Lungenentzündung bei Patient:innen mit stark ausgeprägter Immunschwäche. Auch kann neben der zellulären Immunabwehr das Immungedächtnis mitbetroffen sein. Beobachtet wurde dies vor allem bei Rückenmarkverletzten mit schweren und hoch liegenden Schäden. Prof. Schwab kommt zu dem Schluss: „Erworbene Infektionen sind bei Querschnittlähmung eine schwerwiegende Komplikation. Ein möglichst frühes Erkennen besonders gefährdeter Patient:innen ist daher wesentlich, um das Überleben und die Selbstständigkeit im späteren Alltag dieser Menschen zu verbessern.“ Die nun folgenden Untersuchungen müssen zeigen, ob eine Behandlung der Immunschwäche tatsächlich zu besseren Ergebnissen bei dieser vulnerablen Patientengruppe führt.
Über die Studie
Die SCIentinel-Studie ist eine internationale prospektive multizentrische Kohortenstudie, die die spezifischen Immunprofile im Blut von 111 Patient:innen analysiert hat. Sie wurde unterstützt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das Exzellenzcluster NeuroCure, das Berlin-Brandenburgische Zentrum für Regenerative Therapien und die Stiftung Wings for Life Spinal Cord Research Foundation. An der Klinik für Neurologie und experimentelle Neurologie der Charité koordinierten Prof. Jan Schwab und Dr. Marcel Kopp die Studie, die in Zusammenarbeit mit weiteren Zentren in Deutschland, der Schweiz, Kanada und den USA entstanden ist.
Originalpublikation: Kopp MA, Meisel C, Liebscher T, Watzlawick R, Cinelli P, Schweizerhof O, Blex C, Lübstorf T, Prilipp E, Niedeggen A, Druschel C, Schaser KD, Wanner GA, Curt A, Lindemann G, Nugeva N, Fehlings MG, Vajkoczy P, Cabraja M, Dengler J, Ertel W, Ekkernkamp A, Rehahn K, Martus P, Volk HD, Unterwalder N, Kölsch U, Brommer B, Hellmann RC, Baumgartner E, Hirt J, Geurtz LC, Saidy RRO, Prüss H, Laginha I, Failli V, Grittner U, Dirnagl U, Schwab JM. The spinal cord injury-induced immune deficiency syndrome: results of the SCIentinel study. Brain. 2023 Jun 28:awad092. doi: 10.1093/brain/awad092. Epub ahead of print. PMID: 37370200.
Quelle: Pressemitteilung Charité – Universitätsmedizin Berlin 06/2023