Bei der Bluterkrankheit Hämophilie A fehlt dem Körper der Blutgerinnungsfaktor VIII (FVIII) teilweise oder ganz oder wird fehlerhaft gebildet. Betroffene erhalten meist FVIII aus Spenderblut oder aus gentechnischer Herstellung. Etwa ein Drittel der Behandelten mit schwerer Hämophilie A entwickelt allerdings Antikörper (Inhibitoren) gegen FVIII. Forschende des Paul-Ehrlich-Instituts haben herausgefunden, dass Komplement-Proteine des Immunsystems die Reaktionen von T-Zellen (Immunzellen) auf FVIII stark beeinflussen und an der Inhibitorbildung beteiligt sein können. Über die Ergebnisse berichtet Haematologica in seiner Online-Ausgabe vom 02.02.2023.
Hämophilie A ist die häufigste Form der Hämophilie (Bluterkrankheit). Durch den teilweisen oder vollständigen Mangel bzw. Funktionsverlust des FVIII kommt es bei Betroffenen zu spontanen oder verlängerten Blutungen. Betroffen sind fast ausschließlich Jungen bzw. Männer (Hämophilie-Inzidenz beträgt ca. 1:5.000 bei männlichen Neugeborenen). Die sogenannte Substitutionstherapie besteht üblicherweise darin, den fehlenden Gerinnungsfaktor VIII regelmäßig per Injektion zuzuführen und so die normale Blutstillung zu ermöglichen. Das FVIII-Protein wird hierfür entweder aus Spenderplasma gewonnen oder gentechnisch (rekombinant) hergestellt. Alternativ kann der die Funktion von Faktor VIII ersetzende monoklonale Antikörper Emicizumab gespritzt werden.
Komplikation – Bildung von Antikörpern gegen den Gerinnungsfaktor VIII
Die schwerwiegendste Komplikation bei der Behandlung der Hämophilie A ist die Entwicklung von Antikörpern gegen den Faktor VIII (auch Inhibitoren genannt), die bei circa 35 Prozenten der Patienten mit schwerer Hämophilie A insbesondere in der frühen Phase ihrer Behandlung auftreten. Das Risiko hierfür ist bei Hämophilie-A-Patienten, denen körpereigener FVIII vollständig fehlt, höher als bei Patienten mit leichter oder mittelschwerer Hämophilie A, bei denen FVIII noch zu einem gewissen Anteil funktionsfähig ist. Es ist aber dennoch möglich, dass auch Patienten mit geringfügigen FVIII-Variationen Inhibitoren entwickeln und umgekehrt Patienten mit schwerer Hämophilie A keine Inhibitoren entwickeln. Hier spielen offenbar noch weitere Faktoren wie beispielsweise immungenetische Eigenschaften oder auch die Intensität und die Umstände einer FVIII-Behandlung eine Rolle.
Welche immunologischen Prozesse schließlich zur Entwicklung von Inhibitoren gegen FVIII-Produkte führen, ist noch nicht vollständig geklärt. Es wird vermutet, dass immunologische Gefahrensignale die Inhibitorbildung begünstigen. Mit Gefahrensignalen sind Moleküle bzw. Botenstoffe gemeint, die dem Körper eine kritische Situation vermitteln. Dies sind zum Beispiel Moleküle, die typischerweise auf der Oberfläche von Bakterien vorkommen (Lipopolysaccharide, LPS) oder bestimmte Eiweiße bzw. Botenstoffe, die der Körper während einer Operation ausschüttet. So wurde beobachtet, dass die Vermeidung einer FVIII-Behandlung beispielsweise während akuter Infektionskrankheiten – Ereignisse, die mit dem verstärkten Vorhandensein von immunologischen Gefahrensignalen verbunden sind – das Risiko der Inhibitorbildung verringert.
Komplementfaktoren im Visier
In früheren Studien hatte die Forschungsgruppe um Prof. Waibler bereits gezeigt, dass aus Plasma gewonnenes FVIII-, nicht aber rekombinantes FVIII-Protein in Gegenwart solcher Gefahrensignale des Immunsystems Immunzellen (dendritische Zellen) aktivieren kann, die anschließend die Bildung spezifischer T-Zellen vermitteln können.
In der aktuellen Studie hat die Forschungsgruppe nun untersucht, ob Bestandteile des Blutplasmas, die natürlicherweise in plasmatischen FVIII-Produkten aber auch im Plasma des Menschen enthalten sind, in der Lage sind, T-Zell-Reaktionen zu beeinflussen. T-Zellen spielen eine ganz wesentliche Rolle im Immunsystem. Sie fanden heraus, dass die Zugabe von Plasma zu rekombinantem FVIII und Lipopolysaccharid-stimulierten Immunzellen, den sogenannten dendritischen Zellen, das Heranreifen von gegen FVIII gerichtete T-Zellen induziert. Lipopolysaccharide befinden sich auf der Oberfläche von Bakterien und werden vom Immunsystem als Gefahrensignal wahrgenommen. In weiteren Experimenten wies die Forschungsgruppe nach, dass die Komplementproteine C3a und in geringerem Maße C5a entscheidend an diesen LPS-vermittelten T-Zell-Reaktionen beteiligt sind.
Die Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Komplementproteine die T-Zell-Reaktionen auf FVIII stark beeinflussen und könnten erklären, warum die Gabe von FVIII in bestimmten Situationen wie beispielsweise bei Infekten zur Entwicklung von Inhibitoren beitragen könnte.
“Die Bildung von Antikörpern gegen Gerinnungsfaktor VIII, die meist als Inhibitoren bezeichnet werden, ist eine gefürchtete Komplikation bei der Substitutionstherapie von Hämophilie-A-Patienten. Wir haben jetzt herausgefunden, dass für die Bildung dieser Inhibitoren Komplement-Proteine, die zum angeborenen Immunsystem gehören, im Zusammenspiel mit sogenannten Gefahrensignalen eine wichtige Rolle spielen. Mit Gefahrensignalen sind hier zum Beispiel Moleküle gemeint, die dem Körper als Hinweis auf eine Infektion dienen. Mit diesem Wissen lassen sich möglicherweise Ansätze entwickeln, um das Behandlungsrisiko der Inhibitorbildung bei Hämophilie-A-Patienten zu senken”, fasst Prof. Zoe Waibler, Leiterin des Fachgebiets Produktprüfung immunologischer Arzneimittel und stellvertretende Leiterin der Abteilung Immunologie des Paul-Ehrlich-Instituts, die Studie zusammen.
Originalpublikation: Ringler E, Iannazzo SO, Herzig J, Weiss LM, Anzaghe M, Miller L, Waibler Z. Complement protein C3a enhances adaptive immune responses towards FVIII products. Haematologica. 2023 Feb 2. doi: 10.3324/haematol.2022.281762. Epub ahead of print. PMID: 36727395.